Fasan-Kritik

Wolfgang Baier: lothar lässt den leser (ver)zweifeln

lyrikwelt.de
 
 

   
 
 
   
 
Zuletzt spricht der Fasan.
Gedichte von Lothar Thiel
(2013, Verlag Steinmeier / Poesie 21)
Besprechung von Wolfgang Baier
für die LYRIKwelt.de
Dort zu 2.) scrollen!
 
Oktober 2017
 
   
lothar lässt den leser (ver)zweifeln

Und das nicht nur einmal! 69 lyrische Texte vereinigt er in dem Bändchen. Es ist ihm Bühne für die Präsentation seiner Lyrik.

Lothar Thiel provoziert, führt den Leser mit den ersten Versen in die Irre, um ihn mit den letzten schmunzelnd zu versöhnen. Er liebt die Verwirrung, lotet Grenzen aus, inhaltliche wie sprachliche. Die Assoziationsfähigkeit seines Lesers setzt er voraus.

Sprache ist Klang. Das haben sich die Konstruktivisten auf die Fahnen geschrieben. Schreibe wie du sprichst: „gans wi du wilsd“. Lothar Thiel setzt es konsequent um. Die Eltern vieler ABC-Schützen sind entsetzt. Mit dem „oulipo(e)tischen egotrip“ treibt er es auf die Spitze. Mathematisch strukturierte Poesie, experimentelle Poesie, als stammten die Verse aus dem „Haus der elektronischen Künste“: abwechslungsreich, humorvoll, immer semantisch mehrdeutig und rätselhaft.

oel! – oel! – reite haerter, heiterer ritter!
herr heller erhielt heile reittiere.
eile, oller treter: italia litt hart!
ei! leittier trat teller …

Lyrik als Mathematikaufgabe! Es macht Spaß, an der Lösung zu arbeiten.

Sprache ist Identität. Seine schwäbische will Lothar Thiel nicht verbergen. Deutlich sind die Anspielungen, Doppeldeutigkeiten. So wird die „kontaktanzeige“ „sensible wäge“ (hochdeutsch: Wege) wohl nur in der Rems-Zeitung oder dem Schorndorfer Tageblatt das Interesse einer einsamen Dame wecken, denn da ist von „äbber“ die Rede, d.h. von jemandem, wie sich der Werber präsentiert. Über einen Fisch, dem man übel mitgespielt hat und der nun im Sand langsam verwest, macht er sich Gedanken: „kein wunder, wenn er allmählich ‚grätig‘ wird. Ein solches Schicksal muss einen auch „ärgerlich“ stimmen, wie es nur der Schwabe versteht. Derbheit und Deftigkeit prägen manche Texte: „Die Darmstädter Symphoniker spielen auf“ - auf ihre Weise -, nachdem sie zwei typisch süddeutsche Gerichte zu sich genommen haben .Ein schwäbisches: Sauerkraut Und ein hessisches: Handkäs mit Musik. Dem schwäbischen Idiom wohnt nun mal ein bisschen Vulgäres inne.

Beeindruckend ist, welch unscheinbaren Dingen des Universums Lothar Thiel mit Versen Aufmerksamkeit schenkt. Zum Beispiel einer hölzernen Dachschindel. Es dürfte sich wohl um das einzige Gedicht weltweit handeln, das dem Wohl und Wehe einer Schindel gewidmet ist. Oder einer schwarzen Pfütze in der Nacht, in der sich eine Leuchtschrift spiegelt und „leiser abendwind bläst trübnis herbei, nahend wie unheil“. Sieben Verse nur und doch ein Wortgemälde!

Lothar Thiel ist sich der Grenzen der Deutung zeitgenössischer Lyrik wohl bewusst. Er gönnt dem Leser ein Durchatmen, ein Innehalten. Immer im richtigen Moment. Geschickt streut er kurze Gedichte ein, die an Loriot oder Heinz Erhard oder Morgenstern erinnern. Wie den „Adventskannibalismus“:

Ja, mein guter nikolaus,
jetzt hauchst du dein leben aus.
Schon beiß´ ich dir in die wade,
denn sie ist aus schokolade.
kurz war deiner tage glück,
nur ein glöckchen bleibt zurück.

Auch streift er, hier schokoladig, wohl dosiert und sensibel, erotisches Terrain. Dann nimmt er die Verrätselung zurück – und wird direkt.

„AUF DEINER SCHOKOLADENHAUT“
auf deiner schokoladenhaut
verdunsten finale askesen.
vor deiner gold´nen honighaut
zerfließen erhabenste Thesen.

Die Verzückung des lyrischen Ich kennt kaum Grenzen. Der Duft von Mango- und Rosenhaut steigert die Synästhesien. „ … um dann in deiner rosenhaut/ von allem frust zu genesen“.

Lothar Thiel ist ein Meister der Form. Das zeigt er beispielsweise in „Ahnung einer Antwort“. Der Text umfasst 9 Verse in freien Rhythmen. Er wählt die Bauform des Akrostichon, welches im griechischen Orakel seinen Ursprung hat. Die jeweils ersten Worte der 9 Verse, senkrecht gelesen, ergeben einen Satz, dessen Inhalt sich im Gesamttext widerspiegelt.

Doch das Sonett hat es ihm besonders angetan. Siebzehnmal wählt der diese Form. Er hält sich an die Vorgaben der Poetik, variiert sie aber auch, wo er es für notwendig erachtet. In „traum von einem essen“ hebt das lyrische Ich an – „mir war als schrieb´ ich ein gedicht“ (V1) –, um sich gleich mit dem zweiten Vers in surrealen Bildern auszutoben:

als fräß´ ein zebra schwalben             V2
als flög´ zu mir ein mondgesicht           V3

die katze läg´ gebraten                   V7
zu füßen einer inderin                     V8
die rieb´ genüsslich sich das kinn         V9
bereit zu leibestaten                       V10
mir war als schlösse nun mein lied       V11

die katze höb` ihr augenlid               V13
das zebra schiene ihr morbid             V14

Der Abgesang reicht nicht, um diesen Alptraum zu beenden. Ein 15. Vers muss her: „und ich zerriss´ ein fädchen“ (V15). Ein Genuss ist der Konjunktiv II, der hier in seiner Ballung vor allem starker Verben das Surreale auf die Spitze treibt.

Hellmuth Opitz kommentiert auf dem rückwärtigen Einband, Lothar Thiel habe wunderbare Fallhöhen zwischen strenger Form und losen Inhalten geschaffen.

Recht hat er!

Ein Schmunzelbändchen für Freunde der Chiffre, der phonetischen Poesie, der Absurdität und der Nachbarschaftslyrik mit Köpfchen!