Angemerkt

Am Anfang steht die Lust

 
Im Januar 2021 bot sich LT die Gelegenheit, die vom unermüdlichen Rüdiger Heins herausgegebene Kulturzeitschrift eXperimenta zu bebildern. Hier ist der Artikel, in dem er seinen Zugang zur Kreativität beschreibt, insbesondere zur bildenden Kunst.

   
LT 1995 Selfie

Mein Vater war Bauingenieur, auf der Rückseite nicht mehr benötigter technischer Zeichnungen verewigte ich meine ersten Kritzeleien, für die meine Eltern mich immer sehr lobten. Vielleicht trug auch dieses positive Feedback dazu bei, dass meine Liebe zum Zeichnen und Malen von ziemlicher Dauer war. Im Kunstunterricht bekamen wir regelmäßig Reproduktionen von Meisterwerken, auf deren Verteilung ich mich immer sehr freute. Insbesondere die Fauvisten und die Expressionisten hatten es mir angetan und mich nachhaltig inspiriert, was man an den vielen Bildern, die in den Siebzigern entstanden, auch sehen kann.
     
Gefühle begleiten mich in allen Phasen des Malens, von der Freude, zum Pinsel zu greifen, über das Schaffen bis zur Betrachtung des Ergebnisses.

Für mich besteht das Befriedigende am Malen im intensiven Erleben des kreativen Prozesses: Am Anfang steht die Lust, manchmal auch der Drang, sich malerisch auszudrücken, der sich teils aus Innerem speist, wie ‚prä-kreativen‘ Stimmungen (z.B. Frustration, Wut, Glück), oder etwa der Neugier, eine bestimmte Technik auszuprobieren. Teilweise entsteht diese Motivation aber auch durch die Wahrnehmung äußerer Reize (z.B. besonderer ästhetischer oder symbolischer Konstellationen). Oft kommt beides zusammen.

Verwende ich statt „Gefühl“ sein Synonym „Befinden“, so zeigt sich meines Erachtens an der doppelten Bedeutung dieses Terminus etwas für den kreativen Prozess Konstitutives: Wo befinde ich mich in der Vernetzung mit der äußeren Welt und meiner inneren? Und wie befinde ich darüber auf eine unmittelbare Weise, die also der Reflexion und dem kognitiven Bewusstsein noch vorausgeht?

Das Besondere am Erleben des kreativen Prozesses besteht für mich darin, dass die gestalterische Absicht immer nur einen Teil dessen prägt, was durch den Prozess entsteht. Das Werk ist immer weniger, stets aber auch mehr als das, was der jeweils vorausgehenden Erwartung entspricht, egal, ob diese auf einer mehr emotionalen oder eher begrifflichen Ebene vorhanden ist. Deshalb befindet sich in dem, was entsteht, oft auch viel Zufälliges und unerwartet miteinander Korrelierendes, das überrascht und sogar Entdeckerfieber erzeugen kann. Derlei ereignet sich natürlich nicht immer, aber wenn es geschieht, dann ergibt sich für mich, zumindest für eine bestimmte Zeit, ein Gefühl der Befriedigung, wie es große Künstler bei Betrachtung ihrer Werke in ähnlicher Weise erleben dürften.

Was dem im kreativen Prozess Stehenden solchermaßen als partielle Unbestimmbarkeit seines Werkes begegnet, erlebt auf seine Weise auch der ‚nur‘ Rezipierende von Kunst, deren Genuss sich auf scheinbar paradoxe Weise ja gerade dadurch ergibt, dass in der Wahrnehmung nicht nur eine bestimmte Sicht auf Form und Inhalt des Werks enthalten ist, sondern auch die intuitive Gewissheit, dass sie, diese Wahrnehmung, noch gar nicht alles, was es im Werk zu finden gibt, erfasst hat, weshalb man fasziniert vor ihm stehen bleibt.

In den Neunzigern kam bei mir zum Malen die Lyrik hinzu, wodurch jenes in den Nuller- und Zehnerjahren fast völlig zum Stillstand kam. 2013 erschien mein erster Gedichtband „zuletzt spricht der fasan“, doch während der vierzehn Jahre, die ich an deutschen Auslandsschulen in Toulouse und Bilbao arbeitete, gab es fast keine Gelegenheit, die Gedichte mit Gleichgesinnten zu diskutieren oder in Lesungen vor einem Publikum live zu präsentieren.

Dies holte ich ab 2015 nach meiner Rückkehr nach München ausgiebig nach. Seither engagiere ich mich bei den „Poesieboten“, die durch Open-Stage-Events die Münchner für die Lyrik begeistern, beim Künstlerverein „Realtraum München“, der den regelmäßigen Austausch zwischen Kreativen auch unterschiedlicher Kunstgattungen sich auf die Fahnen geschrieben hat, und bei „eigenleben“, einem Zusammenschluss von kreativen Menschen ursprünglich nur der Altersgruppe 60+, der aber immer mehr den Dialog zwischen den Generationen in den Mittelpunkt seiner Aktionen stellt. All diese Gruppen und die zwischen ihnen möglichen Synergien ermöglichen mir eine Fülle ganz unterschiedlicher Projekte, eben auch gemeinsam mit anderen, zum Beispiel die Vertonung einiger meiner Gedichte inklusive Liederabend.

So kam es auch, dass ich im Sommer 2020 der Einladung folgte, auf einem – strenge Sicherheitsauflagen beachtenden – Festival von „eigenleben“ im „Salon F“ in München elf von mir im 20. Jahrhundert gemalte Porträts auszustellen. Die Malerei hatte ich in diesem Jahr ohnehin wieder aufgenommen, sodass mein Konzept für die Zukunft lautet, gattungsmäßig auf mehreren Hochzeiten zu tanzen, verschiedene kreative Gattungen eventuell auch zu verbinden, z.B. im Videobereich, weiterhin mit anderen Kreativen zu kooperieren und auch die digitalen Möglichkeiten der Vernetzung zu nutzen. Wie sonst etwa wären die eXperimenta und ich uns je begegnet? Ich freue mich auf möglichst viele Gelegenheiten, meine Bilder zu zeigen, bereite aber auch einen weiteren Gedichtband vor und arbeite an einem Roman. Für die letzteren Projekte hoffe ich natürlich auch, Verlage begeistern zu können.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die seit 1999 von mir betreute interkulturelle Jugendzeitung „trait d’union“ (Bindestrich), an der im Lauf der Jahre 28 Schulen aus fünf Kontinenten teilnahmen. Auch hier spielen neben den journalistischen Aktivitäten die Kreativität, aber auch die Vernetzung und der Austausch eine große Rolle. In Zeiten, in denen Diskriminierung und Ausgrenzung den Mainstream immer mehr prägen, halte ich ein Projekt, das den Mehrwert von Diversität, wechselseitigem Verstehen und interkultureller Kooperation in den Mittelpunkt stellt, für wichtiger denn je, weshalb ich auch nach meiner Pensionierung alles tun will, um die Attraktivität dieser Plattform für junge Leute und Bildungseinrichtungen aus aller Welt durch bewährte und neue Formate zu bewahren. 

München, 15.12.2020
Lothar Thiel